Übersetzen in Zeiten von Corona

Foto: Pawel Sokolowski

Seit März diesen Jahres ist unser Alltag von Corona geprägt. Für die Osteuropa-Tage hieß es am Anfang erstmal: Unsicherheit. Werden wir überhaupt Events veranstalten können? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? Würden Leute überhaupt kommen? Wie kann man sich Kultur digital vorstellen?Irgendwann im Sommer war es uns im Team klar, dass wir alle Formate komplett online durchführen werden.
Für viele der Events war das eine große Umstellung, nicht zuletzt für unseren Übersetzungsworkshop “Voices to be heard”. 

Der Workshop als Konzept wurde 2017 in unserer Festivalreihe zum ersten Mal eingeführt. Damals habe ich die bulgarische Gruppe als Übersetzerin geleitet und war sehr begeistert von dem einzigartigen Format: Übersetzungen können in Gruppen entstehen, in denen eine Person erstmal eine Rohübersetzung eines Textes anfertigt und diese dann der Gruppe zur Diskussion vorstellt. Unglaublich spannend für die Übersetzer*innen und für diejenigen, die ihnen beim Arbeiten zuschauen dürfen!


Wie funktioniert so ein Workshop?
Die Rohübersetzung des Textes wird im Voraus von einer Person angefertigt. Diese Person übernimmt während des Workshops die Leitung der Gruppe, bzw. hat eine moderierende Rolle und kann die Arbeit koordinieren. Die Entscheidungen bei der Auswahl der passendsten Formulierungen werden jedoch demokratisch getroffen. Die “leitende” Person sollte also am besten offen für Feedback und andere Perspektiven sein, denn beim Workshop geht es nicht darum, eine bestimmte Übersetzungstechnik zu bestätigen, sondern darum, aus der Vielfalt an Perspektiven Vorteile für den Text zu gewinnen. 

Foto: Pawel Sokolowski

Am Anfang des ersten Arbeitstages liest sich die Gruppe den Originaltext und die Rohübersetzung durch und macht sich damit vertraut. Innerhalb der zwei Arbeitstage können in einer Gruppe von zwei bis sechs Menschen erfahrungsgemäß etwa fünf bis sieben Seiten Text abgearbeitet werden. Die Endversion wird vor der Veröffentlichung idealerweise noch einmal lektoriert, jedoch sind die entstandenen Texte nicht selten auch davor publizierfertig, denn sie sind das Ergebnis leidenschaftlicher Diskussionen und vielfältiger Perspektiven, aus denen am Ende die für den Text am besten funktionierenden Formulierungen ausgewählt worden sind. 

 


Wer kann teilnehmen?
Teilnehmen können alle, die Spaß am Übersetzen haben. Wir haben bei unseren Workshops immer eine Mischung von Profis und Hobby-Übersetzer*innen, jeweils mit oder ohne Kenntnisse der Sprache in der der Originaltext geschrieben ist. Auch das kann hilfreich sein, denn wenn eine Person die Originalsprache nicht kennt, ist sie dadurch weniger eingeschränkt und kann kühne Ideen vorschlagen, die den Muttersprachler*innen manchmal nicht eingefallen wären oder eben, “zu kühn” erscheinen. Dadurch dass die Gruppen immer an einer fertigen Rohübersetzung arbeiten, kann man sowohl als Profi, als auch al Einsteiger*in sehr schnell abgeholt werden und produktiv mitmachen.

Was für Texte eignen sich für so ein Format?
2020 kann ich stolz sagen: Wir haben schon alles ausprobiert und es war immer ein Vergnügen. Wir haben Gedichte, Kurzgeschichten, Buchkapitel, Artikel, Essays und investigative Beiträge übersetzt. Alle Gattungen eignen sich für so ein Format, allerdings muss man die Einzelheiten beachten. Dieses Jahr lag unser Fokus auf publizistischen Texten aus Polen, Bulgarien, Tschechien und Russland und wir hatten vier sehr unterschiedliche, jeweils sehr spannende Texte dabei, die vor allem für die Bevölkerungen der jeweiligen Länder geschrieben sind. Die vier Gruppen standen also vor der Herausforderung, gewisse kulturelle Kontexte, sowie landesspezifisches Hintergrundwissen, welches für das Verständnis der Texte notwendig ist, möglichst verständlich ins Deutsche zu übertragen, ohne dass dabei zu viele Fußnoten entstehen. 

Bei investigativen journalistischen Beiträgen, wie dieses Jahr bei der russischen Gruppe der Fall war, braucht man (auch in der Gruppe) länger, um gewisse Abkürzungen nachzuvollziehen, sowie über die im Text genannten Institutionen, Organisationen, sowie mediale Figuren zu recherchieren, um den deutschen Leser*innen ausreichend Kontext anbieten zu können. Das muss man bei der Planung berücksichtigen und idealerweise einen nicht zu langen Text auswählen.

Geht das Ganze auch digital?!
Seit diesem Jahr bin ich der Meinung, dass es tatsächlich auch digital geht. Bei der Online-Ausgabe unseres Workshops am 24. und 25. Oktober 2020 haben die Gruppen an zwei Tagen jeweils sechs Stunden lang über Zoom an ihren Rohübersetzungen gearbeitet. Die Arbeit war über Google Drive in kollaborativen Dateien organisiert, die Pausen haben die Gruppen jeweils untereinander bestimmt. 

Am Ende des Workshops haben sich alle Gruppen zusammengetan und sich über den Übersetzungsprozess ausgetauscht. Dabei konnte z.B. die bulgarische Gruppe, in der es keine deutschen Muttersprachler*innen gab, bei der Suche nach einem passenden Begriff wertvolle Tipps bekommen. Die Teilnehmenden konnten einen Teil von jeder Übersetzung hören und einen Eindruck von den jeweiligen sprachlichen Besonderheiten in jedem Text bekommen.

Der Übersetzungsworkshop ist ein einzigartiges Event, das von der Energie der Mitmachenden lebt. Unter normalen Umständen hätten wir uns also bei Kaffee und Keksen getroffen und an einem Tisch zusammen gesessen und gearbeitet. Dieses Jahr waren wir sehr unsicher, ob die gleiche Atmosphäre auch online entstehen kann und wie man sie als Festivalveranstalter fördern könnte.  Ein besonderer Dank geht hier an die diesjährigen Referent*innen: Katarzyna Hajduk (PL), Evdokia Stoyanova-Kostova (BG), Anastasia Myasina (RU) und Ruben Höppner (CZ) für die tolle Arbeit an den Rohübersetzungen und beim Moderieren der Gruppenarbeit. Sie haben von den Workshop-Teilnehmer*innen viel Lob bekommen und sind für den Erfolg des Events die Hauptverantwortlichen.

Foto: Pawel Sokolowski

Unsere Sorge um die Rezeption des Online-Formats war aber unbegründet: Wir haben von einigen Teilnehmer*innen das Feedback bekommen, dass sie (aus unterschiedlichen Gründen) vielleicht gar nicht teilgenommen hätten, wenn das Event nicht online stattgefunden hätte. Das war auch der Grund, der mich dazu bewegt hat, diesen Beitrag zu schreiben. Denn Menschen brauchen die Verbindung zu anderen. Die Corona Pandemie hat uns gezeigt, dass diese Verbindung auch online in allen möglichen Formaten entstehen kann, auch beim kollaborativen Übersetzen. Man wird bei so einem Format nicht nur herausgefordert, aus der eigenen Komfort-Zone auszugehen, die Kamera anzumachen und mit Unbekannten zusammenzuarbeiten, sondern bekommt auch die Möglichkeit, seine Kreativität und Kenntnisse anzuwenden und sich dabei (hoffentlich) vom Alltäglichen zumindest abzulenken. Auch wenn es nur für ein paar Stunden ist, haben wir alle gelernt, das zu schätzen.

Gern tausche ich mich mit interessierten Koordinator*innen und Übersetzer*inenn aus, die ein ähnliches Event veranstalten möchten und teile mein Wissen mit Euch. Meldet Euch bei uns über info@osteuropa-tage.de.

Plamena Maleva

 

Der Übersetzungsworkshop “Voices to be heard” findet statt im Rahmen der Osteuropa-Tage 2020, eine Initiative von Städtepartner Stettin e.V., gefördert mit Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.